Freitag, 22. Mai 2009

An der Grenze

Da war es wieder: Dieses Gefühl an der Grenze zu laufen. Mein Gi war schon seit zwei Stunden durchnässt und klebte an meiner Haut. Ich spürte ihn nicht mehr. Mein Atem ging schnell. Ich sog die feuchte, stickige Dojo-Luft tief und schnell ein. In zischenden Lauten stiess ich sie wieder hinaus, jedes Mal spannte sich mein Körper an, um die Schläge und Tritte meines Gegners einzustecken. Ich bemerkte es nicht. Mein linker Oberarm war schon sehr in Mitleidenschaft gezogen, übersät mit roten Flecken, verursacht durch Fäuste und Schienbeine. An meinem linken Schienbein pochte ein Bluterguss, den ich mir zuzog als ich bei einem Block das Knie des Gegners traf. Mein rechter Zeigefinger war gestaucht und schmerzte fast bei jedem Schlag höllisch. Und trotzdem fühlte ich es kaum mehr. Mein eigentlicher Fokus pendelte zwischen zwei Polen. Ich versuchte, mich auf meinen Gegner zu konzentrieren, seinen Schlägen und Tritten auszuweichen, sie zu blocken oder sie wenigstens vernünftig einzustecken. Und dann war ich mit den Gedanken wieder ganz bei mir, redete mir ein, dass ich keinen Durst zu haben brauche, die Schmerzen nicht so schlimm seien, meine Kraft nicht am Ende sei.
Vier Tage zuvor biss ich auf die Zähne. Ich war kurz davor abzusteigen und eine kurze Pause einzulegen. Ich tat es nicht. Schliesslich waren es nur noch gut 5 Minuten bis zur Passhöhe auf dem Regensberg. Meine Oberschenkel und mein Hintern brennten wie die Hölle. Es hatte gerade wieder angefangen zu regnen, eine leichter Luftzug zog mir um die Ohren. Ein BMW Cabrio zog gerade an mir vorbei, während ich einen Gang runter schaltete, um noch langsamer den Berg hinaufzufahren und meinen Atem wieder etwas unter Kontrolle zu bringen. Wieso mache ich das eigentlich? Weshalb schinde ich hier? Um einen Gurtgrad zu erreichen? Um mir selber was zu beweisen? Um stärker, schneller, leistungsfähiger zu werden? Wegen dem Wetter und dem Genuss an der Landschaft kann es nicht sein. Zu sehr stehe ich unter Druck, Gas zu geben, die Strecke effizient zu bewältigen, meine Puls hochzujagen, damit sich mein Kreislauf daran gewöhnt.
Als ich vor mehr als einem Monat vor den Ferien stand, war meine Motivation am Boden. Ja, ich war fit wie noch nie und konnte sehr gut beim Training mithalten. Ich hatte das Gefühl, dass die neuen Techniken sassen, die Katas hatte ich im Griff. Und Tag für Tag zog ich mein Programm durch. Doch die Luft war raus. Ich mochte nicht mehr. Ständig das Gleiche. Immer wieder die gleichen Bewegungen, immer wieder die gleichen Übungen, nur noch Sport, Leistung, Karate. Rauf und runter. Ich bin ein Mensch, dem es schwer fällt, sich ganz auf eine Sache einzulassen. Ich sehne mich nach Abwechslung. Nicht nur inhaltlich, sondern auch nach einer guten Mischung aus Komplexität und Routine. An etwas zu feilen, es zu perfektionieren, von grossen Fortschritten zu immer kleineren zu gelangen, ständig die Schraube noch etwas enger anzuziehen - das liegt mir eher weniger. Die Momente in meinem Leben, in denen ich wirklich verbissen über längere Zeit an einem Thema gearbeitet habe und es bis ins kleinste Detail verfolgt habe, kann ich an einer Hand abzählen - wenn überhaupt. Diese ersten drei Monate als Uchi Deshi offenbarten mir sehr deutlich, wo einer meiner wunden Punkte liegt. Vielleicht ist es kein wunder Punkt. Vielleicht gehört diese Fähigkeit des Perfektionierens, des unhinterfragten Arbeitens am Gleichen über lange Zeit, einfach nicht zu meinen Stärken. Ich habe einmal gehört, dass Muhammad Ali mehr an seinen Schwächen gearbeitet habe, als an seinen Stärken. In der heutigen Zeit fokussiert man sich stets auf die Stärken von Menschen. Man soll sich auf diese beziehen und sein Leben nach seinen Stärken ausrichten. Auch wir von DO richten unsere Angebote und die Zusammenarbeit unter den Mitarbeitern auf die individuellen Stärken der Menschen aus, darin kann man kaum Nachteile sehen. Wenn ich mir überlege, worin der Sinn meines Uchi Deshi Jahres besteht, ist mir klar, dass es auf jeden Fall Grenzerlebnisse fördern soll. Ich sollte mit meinen Schwächen konfrontiert werden. Geht es darum, sie einfach kennenzulernen? Geht es darum, sie vielleicht zu bekämpfen? Davon halte ich nicht viel, schliesslich machen die schwachen Punkte eines Menschen ja gerade den Menschen aus. Ohne Schwäche keine Stärke, ohne Berge keine Täler, ohne Winter keinen Sommer. Dualitäten prägen unser Leben, das ist keine neue Erkenntnis. Was soll man mit den Schwächen machen? Lernen, damit umzugehen? Wenn ja, was heisst das denn genau? Und wie macht man es denn?
Ich freute mich auf meine Ferien und zog in der Woche nach Ostern mit einer Schar 17-jähriger und meinen Kursleitern ins Münstertal in den JUBLA-Leiterkurs. Endlich den Kopf durchlüften. Endlich, nach drei Monaten mehr oder weniger ununterbrochenem Training einen totalen Wechsel der Lebensumwelt. Ich war für sieben Tage weg aus der Stadt, in der Natur. Ich umgab mich mit guten Freunden und obwohl diese Kurswoche nicht annähernd eine so befriedigende Abwechslung ergab, wie ich sie mir vor den Ferien erhofft hatte, schöpfte ich doch neue Energie in meiner Abwesenheit vom Karate. Und ich steckte mich gleich noch mit einer Grippe an, die mich fast die ganze zweite Frühlingsferienwoche vom Training abhielt. 
Als dann vor drei Wochen mein Training wieder richtig begann, erschrak ich. Mir wurde schlagartig bewusst, dass mein erstes Etappenziel vor mir lag: Die Grüngurt-Prüfung Ende Juni. In den letzten drei Wochen plagten mich starke Zweifel, was meine Erfolgschancen an der Prüfung anbelangte. Klar, ich hatte drei Monate intensiv trainiert und den Stoff gelernt. Er sass auch - zumindest hatte ich im Unterricht kaum Hinweise darauf bekommen, dass das nicht so sei. Aber zwei Tatsachen hielten mich davon ab, den Prüfungserfolg positiv zu erwarten. Erstens hatte ich nach zwei Wochen Trainingspause und einer Grippe wieder ziemliche Probleme, mich an die Belastung des Trainingsalltags zu gewöhnen. Die ersten beiden Trainingswochen Ende April/Anfang Mai waren nicht wirklich stimulierend. Schnell hatte ich wieder einen mächtigen Ganzkörpermuskelkater und ich war müde und demotiviert. Zweitens hatten ich seit bald zwei Monaten nicht mehr gekämpft. Ich weiss, dass ich konditionell heute an einem ganz anderen Punkt stehe, als noch vor vier Monaten. Aber mit nur zwei Monaten Kumite hatte ich meine kämpferischen Fähigkeiten nicht so verbessert, dass ich mich für die Prüfungskämpfe gewappnet fühlte.
Marcel riet mir vor einigen Monaten, mich nicht auf Ziele und Wünsche zu konzentrieren, sondern das Ganze einfach hinzunehmen und nur das zu tun, was ich tue. Aber wenn die Prüfung vor einem steht und mir Malibu mit ernstem Blick sagt, dass "wir" an der Prüfung schon eine ziemlich Leistung erwarten (nicht, dass er das hätte sagen müssen), dann steht das auf den ersten Blick in einem ziemlichen Widerspruch zu dem, was Marcel gesagt hatte. Ich ahne irgendwie, dass sich diese Dualität aus einer anderen Perspektive als etwas zu Vereinendes darstellt. Doch diese Perspektive bleibt mir verwehrt.
Und so kämpfe ich weiter in meinen inneren Zweikämpfen. Befinde ich mich an der Grenze. Dann immerhin sehe ich auch, dass es zwei Seiten gibt, die diese Grenze unterscheidet. Wie der Grat die eine Bergflanke von der anderen trennt und sie gleichsam vereint. Immer wieder wage ich mich von der einen Seite an den Grat ran, versuche ihn zu erreichen und besteigen und lande dann auf der anderen Seite, weil ich auf dem Grat den Halt nicht gefunden habe. Dieses Ausbalancieren gelingt mir nicht - zumindest fühle ich das so. Es ist spannend und gefährlich. Und obwohl ich müde bin, vielleicht auch desillusioniert - ich weiss nicht, ob das das richtige Wort ist, um dieses Gefühl zu beschreiben - bin ich mir klar darüber, dass ich weiter versuchen werde, auf diese Grenze zu gelangen.
Ich beende diesen Blog-Eintrag etwas unfertig. Es scheint mir, dass mein Text viele Fragen aufwirft und ich fühle mich nicht in der Lage, befriedigende Antworten zu geben. Ich glaube einfach, dass ich momentan in einem ziemlichen Tal stecke und ständig an mir selber schleife. Das ist auch gut, denn es bedeutet, dass es auch wieder hoch auf den Berg gehen kann. Ich hoffe, dass ich den entsprechenden Weg raus aus dem Tal bald finde und hier davon berichten kann und dann wieder ein paar Schritte auf meinem Weg durch mein Uchi Deshi Jahr sein werde.

Zwei Bilder aus meinen Ferien im Münstertal - hier keimt der Frühling in den Alpen:


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