Montag, 23. Februar 2009

Fluch und Segen: Die ersten zwei Monate

Seit 7 Wochen grüsse ich beinahe täglich das Dojo. Die ersten beiden Monate sind schon durch. Es ist vieles passiert in diesen Wochen. Schmerzhaftes und Erfreuliches, Lehrreiches und Kräftezehrendes. Nichts, was extrem aussergewöhnlich wäre - zumindest nichts, was für Aussenstehende aussergewöhnlich ist. Für mich bedeuteten diese Wochen jedoch eine jähe Zäsur im Lebensweg, den ich bisher begangen habe.

Ich tue mich schwer, das Vergangene zusammenzufassen und hier schriftlich zu verarbeiten. Das ist mitunter ein Grund, weshalb ihr, liebe Leser, erst jetzt wieder etwas von meinem Uchi Deshi Sein in schriftlicher Form erfährt.

Woche für Woche spule ich mein Training ab. Teilweise trainiere ich auch am Wochenende, meistens stehe ich zumindest zum Putzen auch am Samstag oder Sonntag im Dojo. Es ist für mich nicht einfach, die Ruhe zu finden und das Vergangene zu verarbeiten, denn bereits am nächsten oder übernächsten Tag geht es wieder los.

Wie sieht ein "normaler" Trainingstag aus?
Es ist eigentlich unmöglich, einen "ganz normalen" Tagesablauf zu skizzieren, da sich jeder Tag fast immer anders gestaltet als der letzte. Trotzdem möchte ich versuchen, einen ungefähren Tagesablauf zu beschreiben.

Los geht's irgendwann am späten Morgen. Da ich eher ein nachtaktives Wesen bin und oft bis halb 10 abends trainiere komme ich meistens nicht vor 2 Uhr ins Bett. Deshalb stehe ich irgendwann zwischen 9 und 11 Uhr auf. Normalerweise esse ich dann ein reichhaltiges Frühstück und vor allem die KH-Speicher aufzufüllen. Dann steht das erste Training auf dem Programm. Ich packe mich warm ein, schwing mich aufs Rad und fahre nach Turgi ins Fitnessstudio. Für eine vollständige Krafttrainingseinheit brauche ich dann gute zwei Stunden. Mir macht das Krafttraining mittlerweile grossen Spass, obwohl ich mich zu Beginn sehr davor gescheut habe, ein Fitnessstudio aufzusuchen. Doch das "Pumpen" tut gut, entleert aber gleich mal sämtliche Energiespeicher. Dafür sieht man auch die Fortschritte, wenn man merkt, dass man für die einte oder andere Übung wieder etwas mehr Gewicht draufpacken kann. Wenn ich dann aus dem Fitness komme, bin ich richtig schlapp. Ein schönes Gefühl. Ich fahre dann noch den letzten Kilometer ins Büro und esse dort mit der Büromannschaft und der Familie Vogt-Frey zu Mittag. Das ist eine sehr schöne Sache, die mir gut tut. Ich geniesse das Familienambiente und freue mich, wenn ich die kleinen Frey-Boys in ihrer kindlichen Unbekümmertheit erleben darf. Kinderlachen steckt an.

Vielleicht bleibe ich nach dem Kaffee noch ein, zwei Stunden im Büro und arbeite etwas. Für die Karateschule oder für die Gewaltprävention. Mitte Nachmittag geht's dann ins Dojo. Ist noch niemand da und hat es der Boden nötig, werden die Dojo-Matten noch sauber gemacht, die Stühle wieder zurecht gerückt, Kaffeetassen gewaschen, Getränke aufgefüllt, Liegengebliebenes in die Fundkiste befördert und die Magazine geordnet. Wenn ich Zeit habe und es im Trainingsplan vorgesehen ist, widme ich mich dann wieder meinem Training. Zum Beispiel bearbeite ich dann den Sandsack 15 Runden lang, jeweils eine Minute Vollgas um dann wieder eine Minute zu erholen (mittlerweile sind es bereits 1.15 min Arbeit und 1 min Pause). Intervalltraining nennt man das. Oder ich trainiere für mich Hand- und Beintechniken, laufe Katas, versuche mich zu verbessern, die Abläufe zu verinnerlichen. Zwischen drei und fünf kommen dann die ersten Kinder, welche sich zum Mini Karate oder den Kinder-Karateklassen einfinden. Für mich meist etwas Zeit um einfach zu sein. Mit den Besuchern zu reden, etwas zu lesen oder einfach dem Unterricht zuzuschauen. Manchmal fahre ich auch kurz nach Hause und esse noch etwas, gehe einkaufen oder hänge Wäsche auf.

Ich stehe um 18.00 Uhr wieder im Dojo und ersetze einen fehlenden Senpai beim Aufwärmen mit den Kindern. Ich helfe dann mit als Hilfstrainer und unterstütze die Trainerinnen und Trainer bei ihrer Arbeit. Um 19.00 Uhr haben dann die Jugendlichen Oberstufe Unterricht. Um in meinem Uchi Deshi Jahr viel zu lernen, trainiere ich dort selber mit. Es ist für mich eine gute Erfahrung, die mich manchmal auch sehr zum Schmunzeln gibt, wenn die Senpais versuchen mit dem guten Dutzend Teenies ihr Training durchzuziehen. Die sind voll in der Pubertät und das kann manchmal amüsant sein, teilweise ist es aber auch mühsam. Vor allem dann, wenn die Mädels bei jeder Gruppenbildung sich wie ein Magnet anziehen und immer unter sich sind... Hmmm... Um 20.15 folgt dann das Erwachsenentraining, normalerweise die für mich intensivste Karateeinheit am Tag. Spätestens um halb 10 ist dann Schluss. Ich freue mich auf die Dusche. Erschöpft und vollgepumpt mit Endorphinen und anderen hormonellen Happy-Machern lasse ich das warme Wasser über meinen Körper laufen, geniesse die Wohligkeit und veranstalte Wasserschlachten mit den anderen Duschgängern.

Irgendwann nach 10 Uhr abends bin ich dann zuhause. Ich bin hellwach und trotzdem müde. Ich weiss, jetzt braucht mein Kreislauf seine zwei bis drei Stunden um wieder herunterzufahren. Aber ans Schlafen ist nicht zu denken. Ich checke also meine Mails, surfe ein bisschen im Netz, schaue TV. Lesen wäre auch schön, doch ich kann mich selten dazu aufraffen. Vielleicht muss noch die letzte Wäsche gehängt werden. Meistens esse ich noch etwas, hauptsächlich Eiweisse. Also ein schönes Stück Fleisch oder Fisch... Hmm! Um 2 Uhr sehne ich mich nach der warmen Decke, hülle mich ein, schliesse die Augen und döse innerhalb weniger Minuten weg...

Natürlich sieht jeder Tag anders aus. Ich mache nicht jeden Tag dasselbe. Auch das Ausdauertraining, der Bürotag, Dojoputzen oder Yoga gehören zu meinen Trainingstagen. Aber ich hoffe, ihr konntet euch in etwa ein Beispiel machen.

Anstatt euch einen chronologischen Ablauf meiner Tätigkeiten zu geben, möchte ich in den nächsten Abschnitten themenbezogen aufzeigen, was mich in den letzten zwei Monaten hauptsächlich beschäftigt hat.

Krankheiten und Schmerzen
Schon nach der ersten Woche fiel ich am Wochenende in einen fiebrigen Zustand. Die zwei Krankheitstage konzentrierten sich zwar nur aufs Wochenende und deshalb konnte ich wieder normal weiter trainieren. Mein Magendarmtrakt machte mir noch etwas zu schaffen, aber ansonsten soweit wieder alles i.O. Nach der zweiten Woche ging ich am Montag der dritten Woche wieder auf meine Joggingrunde. Was danach folgte, kann im vorigen Blog-Post nachgelesen werden. Das Knie machte mir noch gute zwei Wochen zu schaffen, doch mittlerweile ist es wieder fast wie neu. Ich denke, es ist wirklich auf eine Überbelastung zurückzuführen.

Bereits nach der vierten Trainingswoche wurde ich dann wieder krank. Und zwar richtig. Ich fühlte mich am Freitag schon unwohl und wollte zumindest das Kampftraining am Abend ausfallen lassen. Doch Senpai Malibu blieb hart und liess den Trainer raushängen. Ich musste bleiben und kämpfen. Ich war stinksauer, ging aber trotzdem in die Kabine und holte Schoner und Zahnschutz. Ich fühlte mich schwach, wie man sich halt fühlt, wenn man merkt, dass das Fieber langsam zuschlägt. Ich überlebte die Fight Night, lag dafür danach bis Montag im Bett, mit einer sauberen Grippe. Den Husten schleppte ich noch gute zwei Wochen danach mit rum, aber immerhin konnte ich am Dienstag der fünften Woche wieder mit dem Training fortfahren.

Ist es überraschend, dass ich in diesen ersten Wochen diese Krankheiten und Unfälle erlebte? Ich glaube nicht. Was die Gründe anbelangt, kann ich nur mutmassen. Meine Kondition war vor dem Trainingsstart sicher nicht die Beste. Es ist nicht verwunderlich, dass ein solch intensives Training sich auf den Körper nieder schlägt. Ebenfalls habe ich meine Ernährung teilweise schlampen lassen. Oder gibt es sogar psychische Gründe? War ich überfordert mit dem Training, den neuen Erwartungen, der Eintönigkeit, die sich mit der Zeit einnistet? Machte mich auch der Druck (siehe weiter unten) zu schaffen? Ich kann diese Fragen nicht definitiv beantworten. Ich denke, es spielen alle Faktoren eine gewisse Rolle. Mitunter ist es wohl für die meisten Menschen eine Herausforderung, wenn sie eine solche Lebenszäsur erleben, auch wenn sie sich angekündigt hat. Eingehend mit meinem Start als Uchi Deshi wird auch ein Rollenwechsel vollzogen und auch das ist nicht immer einfach zu bewerkstelligen. Dass mein Körper darauf reagiert, scheint der logische Schluss zu sein.

Ich bin aber froh, dass ich nun seit vier Wochen wieder ohne Krankheit oder grössere Schmerzen trainieren kann. Letzte Woche war ich bei 25 Stunden Training/Woche, was schon eine verdammt geile Leistung ist - ohne, dass ich danach krank wurde. Darauf bin ich echt stolz. Ausserdem habe ich auch schon viele positive Bemerkungen und Komplimente für mein Äusseres erhalten - was mir natürlich auch schmeichelt. Das ist schön, darauf bin ich stolz.

Erste Schritte im Unterrichten
Da in der vierten Trainingswoche am Mittwoch Senpai Fabio ausfiel, durfte ich zum ersten Mal das Aufwärmen in zwei Klassen übernehmen. Es machte mir riesen Spass und die Feedbacks lassen vermuten, dass ich mich nicht allzu dumm angestellt habe. Es folgten nach dem Wintersportferien weitere Einsätze im Unterricht und es zeichnet sich ab, dass ich ein, zwei Klassen in Zukunft regelmässig begleiten werde.

Unterrichten macht mir grossen Spass. Ich sehe im Unterrichten eine riesen Chance, selber grosse Lernfortschritte zu machen. Das genaue Beibringen einer Technik oder Schritte einer Kata ermöglicht es, sich selber klar zu werden, wie eine Technik wirklich funktioniert und was sie bedeutet - bedeuten kann - in Kihon, Kata und Kumite. Ausserdem hat jeder Kohai (Schüler der Kampfkünste) einen anderen Zugang zum Kampfkunstverständnis, was immer wieder neue Blickwinkel auf den selben Gegenstand zulässt und zeitweise die Lehrer-Schüler-Situation auch den Lehrer wieder zum Schüler werden lässt.

Woran ich zu beissen habe
Das Training schenkt ein. Ich habe in den letzten Wochen bereits viel neuen Stoff gelernt und nun einiges zu vertiefen. Das Krafttraining macht müde und schlapp, das Dehnen hat mir bereits eine Zerrung besorgt, das Kämpfen gibt Prellungen, blaue Flecken, Schürfungen, Stauchungen und sonstige Wehwehchen, 3 Stunden Karatetraining am Stück hängen ganz schön an. Doch daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Es ist auch nicht das eigentliche Training, woran ich zu beissen habe.

Es sind verschiedene Dinge, die mir zu schaffen geben. Beispielsweise der fehlende Rhythmus meines Tages. Da jeder Tag wieder anders aussieht, schaffe ich es einfach nicht, einen guten Rhythmus rein zu bringen. Ich bin ein Mensch, der sehr gut funktionieren kann, wenn ich mich auf einen von aussen vorgegebenen Raster stützen kann. Beispielsweise der Schulstundenplan oder ein Chef, der mich pünktlich um 8 Uhr jeden Morgen erwartet. Das ist aber nicht mehr der Fall. Ich muss mir meinen Tag bis auf wenige "Pflichtstunden" selber organisieren. Ich tue mich schwer damit und habe noch nicht richtig den Dreh gefunden, dass ich wirklich zufrieden bin. Ich bringe zwar mein Pensum durch, dennoch habe ich viel leere Stunden dazwischen, die ich manchmal sehr unproduktiv verbringe… Darauf gehe ich weiter unten noch einmal ein. In meinem ersten Reflexionsgespräch haben Marcel und ich dieses "Problem" einmal genauer angeschaut. Schlussendlich kam heraus, dass ich eigentlich gar nicht sooo viel unproduktive Zeit verbringe und dass wenn ich sie "unproduktiv" verbringe, das durchaus gut sein kann.

Ein anderes Problem ist der Druck. Es besteht zwar kein wirklicher Druck von der Trainerseite her, vielmehr mache ich mir den Druck selber. Ich habe die fixe Idee, mir ständig Ziele zu setzen, an "Problemen" zu arbeiten und auf eine Idee, einen Wunsch hinzuarbeiten. Im Reflexionsgespräch riet mir Marcel jedoch, dass ich mich vollkommen davon lösen soll. Ich sollte trainieren um des Trainingswillen, vollkommen im Moment leben, keine Wünsche und Vorstellungen, keinen Druck spüren. Zufrieden sein, mit dem Training das ich tue. Training ohne zu werten. Das Ziel sollte eine Zustand ähnlich der Zazen-Meditation sein. Völlig ergebnislos Tätigkeiten verrichten, leben und sein im Moment.
So sollte es sein. Aber das ist für mich nicht einfach. Ich als Mensch, der seine Zeit grundsätzlich produktiv nutzen will, hinter jeder Minute ein Ergebnis sehen will, tut sich schwer mit solchen Vorgaben. Ich muss aber auch zugeben, dass mir das Training seit diesem Gespräch einiges "leichter" gefallen ist. Ich habe mich wirklich versucht zu lösen, von den Wünschen und Vorstellungen. Und es klappt - einigermassen.

Es ist schon irgendwie absurd. Ich trainiere dieses Jahr jeden Tag Karate. Arbeite nur an mir, meinem Geist, meinem Körper. Produktiver Nutzen für DO bringe ich nicht viel (mal abgesehen davon, dass ich das Dojo sauberhalte und ein paar Stunden in der Woche für Projekte arbeite). Während ich im Training meine Runden laufen und den Sandsack bearbeite, dreht sich ausserhalb des Dojos die ganze Welt um ganz andere Dinge. Es geht nicht um Besinnung, zu sich zu kommen, im Moment leben. Es herrscht Sturmzeit. Die Weltwirtschaft steht am Abgrund, Amerika hat einen neuen, enthusiastischen Präsidenten, das Bankgeheimnis geht bald flöten. Rundherum suchen Menschen verzweifelt Arbeit, zehntausende Stellen wurden und werden abgebaut. Die Umwelt steht auf Messer's Schneide. Eine Zeit der Krise, eine Zeit der grossen Veränderung.
Mein Bruder und mein Vater schlagen sich täglich mit dem Dreck der Gesellschaft herum, kämpfen gegen Devianz und Eigenjustitz. Meine Mutter schiebt Zahlen umher, tag ein tag aus. Jeder arbeitet produktiv, erreicht Ziele und ist für andere viel wert. Und ich? Mein Tag besteht aus Training. Fitness, Stretching, Schwimmen, Radfahren, Kata, Kihon, Kumite, Sandsack, Yoga usw. Und dabei trainier ich nicht mal auf einen grossen Wettkampf oder auf sonstige Medaillen und Pokale hin. Ich soll allen Vorstellungen und Wünschen abschwören, alles nur für mich tun, den Moment ganz in mir verorten - jederzeit. Ein Fluch… und zugleich ein Segen.


Nur um es ganz klar zu sagen: Mir macht meine Rolle als Uchi Deshi mehr und mehr Spass. Ich merke, wieviel mir dieses Jahr geben kann und geniesse es auch. Seit einigen Wochen trainiere ich nun wieder ohne Unterbruch. Ich fühle mich fit und sehr wohl in meiner Haut. Ich freue mich auf das, was noch kommen wird.

Ich möchte an dieser Stelle auch noch mal meinem ganzen Betreuer-Team danken. Besonders Malibu für seine ständige Begleitung und die vielen Privatstunden, die er bereits mit mir verbracht hat.